Günther kommt nur noch erschöpft von der Arbeit nach Hause, und das Einzige, was ich von ihm höre, ist: lass mich in Ruhe. – Er nimmt nichts mehr wahr, die Kinder weichen ihm aus. Wenn er spät nach Hause kommt, isst er alleine. Dann liege ich schon lange im Bett. Er sitzt dann meist noch vor dem Fernseher oder Computer, um irgendwann nach Mitternacht ins Bett zu gehen. Er schläft total unruhig, ist meist schon um 5 Uhr munter, und wenn ich ihn dann auf seinen Lebensstil anspreche oder sage, dass ich mir Sorgen um ihn mache, dann höre ich stereotyp: “Ich brauch nur meine Ruhe.” – So klagt mir Susanne in der Ordination ihr Leid mit ihrem Mann. “Ist er einmal nicht erschöpft, so will er mit mir alles Mögliche unternehmen. Am liebsten hätte er Sex, aber dass wir wieder einmal miteinander reden und endlich wieder in Kontakt kommen, dafür gibt es keine Zeit. So lange wir so nebeneinander leben, habe ich auch keine Lust auf Sex. Ich mach mir Sorgen um ihn und ich fühl mich überhaupt nicht von ihm verstanden. Er hört mir gar nicht mehr zu.”
Jede Zeit, jede Gesellschaft produziert ihre eigenen Erkrankungen. Wir haben viel zu tun mit chronischen Erschöpfungszuständen, Depressionen, Angst-Panik-Attacken, Schlafstörungen, Infektanfälligkeiten, Beziehungskrisen, vielfältigen Suchterkrankungen und Somatisierungen, d.h. Übertragungen von psychischen Krisen und Beziehungskonflikten auf die Körperebene. Anzeichen dafür können chronische Gastritis, Reizdarm-Symptomatik, Nahrungsmittelunverträglichkeiten sein – nichts vertragen und niemanden vertragen liegen sehr knapp beieinander.
Es ist spürbar, dass es für Susanne erleichternd ist, das alles endlich jemandem erzählen zu können. “Ich selbst fühl’ mich immer häufiger depressiv und ertappe mich dabei, wie ich zumindest am Abend – auch allein – meine zwei bis drei Achterln Wein trinke, die mich angenehm entspannen…..”
Eine Woche später kommt Günther, den seine Frau – ohne sein Wissen – zur Vorsorgeuntersuchung angemeldet hat, sichtbar und spürbar unwillig zu mir in die Arztpraxis.
“Mir fehlt nichts, Herr Doktor“, sagt er gleich beim Betreten der Praxis. „Das Problem liegt bei meiner Frau, die nicht akzeptieren kann, dass ich jetzt – in der Krise – ganz einfach mehr arbeiten muss. Die Zeiten sind härter. Ich muss mehr arbeiten, um dasselbe Geld zu verdienen”, klagt er.
“Erzählen Sie mir bitte von Ihren Zufriedenheiten“, ist auch diesmal, wie in jedem Erstgespräch meine Einstiegsfrage. “Wo ist Günther mit Günther zufrieden, was macht Günther in seinen Beziehungen zufrieden, und was sind die Zufriedenheiten im Beruf?” “Lieber würde ich Ihnen von meinen Schlafproblemen erzählen”, sagt Günther, um dann doch mühsam über seine Zufriedenheiten nachzudenken. “Ich bin ehrgeizig, analytisch, zielorientiert, erfolgreich, habe eine fleißige Frau und tüchtige Kinder.” – “Und was macht sie zufrieden, mit wem können Sie reden, wenn es Ihnen schlecht geht, was schätzen Sie an Ihrer Frau?” Günther kann, wenn auch mit Widerstand, doch Ant worten auf diese Fragen geben. Ich versuche ihm zu erklären, dass das Wissen um seine Zufriedenheiten Voraussetzung ist, um wieder gesund zu werden. Als die Vertrauensbasis zwischen uns hergestellt ist und ich das Gefühl habe, Günther akzeptiere nun, bei mir in der Ordination zu sein - mit mir in Kontakt – da beginnt er, dem “ja nichts fehlt”, seine Beschwerdebilder aufzuzählen:
“Ich kann seit Monaten nicht richtig schlafen, bin ständig müde. Mir gehen alle und alles auf die Nerven. Ich halte laute Geräusche nicht mehr aus, in meinen Ohren pfeift es ständig. Nachts wache ich verschwitzt und mit Herzklopfen auf, ich hab nicht richtig Appetit, nur mehr Fressattacken, die mir nicht gut tun. Zum Sporteln bin ich viel zu müde, für Freunde habe ich keine Zeit mehr. Ich habe immer häufiger Kopfweh, fast täglich Magenschmerzen. Die Arbeit gelingt mir nur mehr mit großer Anstrengung und ich habe ständig das Gefühl von ‘zu wenig Zeit’ und ‘alles ist mir zu viel’. – Geben Sie mir doch etwas, damit ich wieder funktioniere!”, sagt Günther und im gleichen Atemzug meint er traurig: “Eigentlich will ich nur meine Ruhe.”
Ich nenne diese Erkrankungen, verglichen mit den Erkrankungen des letzten Jahrhunderts, die sogenannten ‘neuen Erkrankungen’. Diese ‘neuen Erkrankungen’ haben zu tun mit sozialer und emotionaler Vereinsamung, mit Statusdruck und einer in unserer Gesellschaft weit verbreiteten Leistungsneurose.
Was tun wir nicht alles, um gesehen zu werden? – Wir, die Generation, deren Eltern mit viel Leistung nach dem Krieg, von nichts – wie sie sagen – alles aufgebaut haben. Wir tun viel zu viel und geben so die gleiche Neurose des Leisten-Müssens an unsere Kinder vielfach weiter. Und das, um den hohen Preis von Beziehungen, die wir alle leben wollen – tragfähige, nährende, haltende und gelingende Beziehungen.
In unserer Gesellschaft gibt es so viele Beziehungsverletzte, die, aus einer Beziehung gefallen, verletzt oder enttäuscht, keinen Landeplatz für eine neue Beziehung mehr bauen können und wollen. Ich staune, wie viele körperlich kranke Menschen die Arztpraxis aufsuchen und von mir befragt, in ihrem Innersten eine große Sehnsucht nach gelingender Partnerschaft entdecken und formulieren. Angst vor Zurückweisung, Angst vor Nicht- Verstanden-Werden, Angst vor neuerlicher Verletzung macht viele einsam und krank. Mit tragfähiger Beziehung meine ich nicht ausschließlich intime Partnerschaft, sondern auch Beziehung zu Menschen, zu denen eine Vertrautheit besteht, die mir die Möglichkeit geben, der zu sein, der ich bin, mich zu sehen und zu akzeptieren als die Person, die ich bin. Das ist ein wesentlicher Faktor für Zufriedenheit, der das Immunsystem stärkt und gesundheitsförderlicher ist als der exakte Body-Maß-Index oder ein Cholesterinwert kleiner 200 mg.
Symptomfreiheit ist schnell erreicht bei Günther, angstlösende und schlaffördernde Antidepressiva, Säureblocker für den Magen, vielleicht ein paar Vitamin-Infusionen und wenn nötig eine leicht blutdrucksenkende Therapie. So ist er maximal behandelt, aber noch weit weg von Heilung.
Wir ÄrztInnen und TherapeutInnen, können maximal behandeln, begleiten und Impulse geben. Heilungskompetenz liegt immer bei den Patienten, bei den Menschen, die sich mit ihren Problemen, auch Beziehungsproblemen uns anvertrauen. Es gilt, sie so zu begleiten, dass Heilungsräume entstehen können. Heilungsräume tun sich dort auf, wo Menschen dialogfähig werden, wo sie wieder lernen zuzuhören, sich selbst und den anderen zu verstehen – und zwar sowohl mit ihren Ressourcen und Stärken, als auch in ihren Verletztheiten.
Verstehen und immer wieder versuchen zu verstehen – das ist die Spiritualität des Heilens. Und das gelingt im dialogischen Miteinander. Manchmal gelingen solche heilsamen Begegnungen in der Arztpraxis oder psychotherapeutischen Praxis – viel schöner noch, wenn diese Heilungsräume in einer lebendigen Partnerschaft möglich sind und gepflegt werden.
Unklare, nicht gelebte Beziehungen sind Energieräuber. Susanne ist in einer Art Co- Abhängigkeit zu ihrem arbeitssüchtigen Mann, der dem Burn-out nahe ist. Beide verbrauchen viel Energie in Konflikten, die sie nicht wirklich lösen können, sondern durch Nichtverstehen noch nähren. Heilung wird nicht gelingen, wenn sie sich bei mir – dem Hausarzt – übereinander beklagen, sondern nur dann, wenn möglich wird, dass sie im wertschätzenden Gespräch lernen, einander zuzuhören und zu verstehen, indem sie sich in ihrer Verletzlichkeit und in ihren Potenzialen wieder neu entdecken.
Susanne und Günther kennen sich schon lange und sehr gut. Sie kennen sich so, dass sie genau wissen, wo und wie sie einander verletzen können. Sich zu erkennen, ist jetzt ihre Chance – jeden Tag neu erkennen in ihren Potentialen, sich gegenseitig gesund zu lieben und eine erfüllte Partnerschaft zu leben. Wenn ich nicht in Beziehung bin, bin ich verführbar und suche mir meine Fluchtwege – Arbeit, Computer, fanatisch betriebene Hobbies, soziale ‘Selbstaufgabe’ – hilfloses Helfen! Wir finden viele Wege, um nur ja nicht auf die Beziehung einzugehen, die uns wachsen lässt.
Gesund sein ist nicht die Abwesenheit von Problemen, sondern der Mut und die Fähigkeit mit ihnen umzugehen. Gut, wenn Susanne und Günther auch schulmedizinisch kompetente Behandlung erfahren, aber das alleine ist zu wenig. Es geht darum, dass sie selbstregulierend lernen, in Beziehung zu wachsen und gesund zu werden. Ein für sie spürbarer ‘Gesundheitsmarker’ wird die Resonanz ihrer Kinder auf dialogfähige Eltern sein.
“Behandeln bedeutet nicht gleichzeitig heilen. Behandeln bedeutet den Körper so weit zu bringen, dass er die alte Ordnung wieder erträgt. Heilen bedeutet, eine Welt zu schaffen, die den Körper nicht mehr der Krankheit aussetzt.” (Jean Carpentier)
In diesem Sinne sind wir alle Heilkundige und haben einen großen Auftrag: zuhören und immer wieder verstehen – das ist der Weg!
Dr. Wögerbauer ist praktischer Arzt und Psychotherapeut in Pernegg
Text: Dr. Georg Wögerbauer
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